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Schule

Zu still! Warum mündliche Noten abgeschafft gehören

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Seit Jahren schon diskutieren Pädagogen, Psychologen und Politiker über die Abschaffung des derzeitigen Notensystems – ohne Erfolg. Es scheint, als sei das leidige Thema zwar jede Diskussion, aber keine Umsetzung wert, denn noch heute – 75 Jahre nach ihrer Einführung – stellen Noten das wesentliche Bewertungssystem in deutschen Schulen dar. Zu was das führt? „Depressionen bei Schülern nehmen seit etwa acht Jahren stark zu“, warnt Hans-Jürgen Tölle vom Zentralen Psychologischen Dienst der Stadt München. Schuld sei neben dem gesellschaftlichen Umbruch auch der Noten- und Leistungsdruck in der Schule.

Das größte Unheil, darin sind sich viele Schüler einig, stellen vor allem die mündlichen Noten dar. Willkür und Sympathie – nicht der tatsächliche Leistungsstand bestimmen hier über das, was letztlich im Zeugnis steht. Da passiert es schon mal, dass eine Fünf im Schriftlichen zu einer Zwei im Zeugnis frisiert wird, denn sowohl schriftliche, als auch mündliche Note zählen je 50%.

Regelrecht unverschämt wird es aber erst dann, wenn Schüler/Innen trotz zweifach geschriebener Eins auf einer Drei im Zeugnis landen. „Du bist eben einfach ein wenig zu still!“, heißt es dann schlicht und ergreifend, woraufhin man als Schüler wohl am liebsten „Immerhin quassele ich nicht irgendeinen bescheuerten Unsinn daher“ zurück brüllen möchte. Harald Martenstein (Die ZEIT) bringt vor allem diese traurige Wahrheit in seiner Kolumne auf den Punkt: „Man erzieht die Leute zu Dauerlaberern, zu Nervensägen und Ichdarstellern, die sollen alle ins Dschungelcamp“.

Naja, vielleicht bis auf das mit dem Dschungelcamp … Aber mal Hand aufs Herz, wie viel von dem, was im Unterricht gesagt wird ist denn tatsächlich hilfreich und bringt den Unterricht voran? In meiner gesamten Schulkarriere habe ich nur selten erlebt, wie diese sogenannten mündlichen „Einserschüler“ tatsächlich irgendetwas Sinnvolles von sich gegeben haben. Stattdessen lenken sie vom Thema ab, stiften Verwirrung oder polieren bereits Gesagtes rhetorisch geschickt so auf, dass man meinen möchte, der geklaute Beitrag stamme von ihnen. Früher nannte man sie Schleimer, heute Blender.

Quantität statt Qualität – oder andersrum? Jedenfalls besteht das Ziel eines jeden Schülers nicht darin, gemeinsam mit der Klasse etwas zu erarbeiten, gemeinsam zu lernen, sondern Ziel muss sein die Meinung des Lehrers zu bestätigen und herauszufinden, welche Antwort er hören möchte. Denn jeder weiß: neue Ideen sind nur halb so gut wie alte und schließlich geht es hier ja ums schulische Überleben!!! Aber die Frage lautet doch: wo kommen wir mit einer solchen Einstellung eigentlich hin? Es scheint als wolle das Bildungssystem in seiner Gesamtheit schubladendenkende, autoritätshuldigende, egoistische, unkreative Musterschüler heranzüchten, die nichts wissen, das aber gut verbergen können.

Bei dem ganzen Affenzirkus fällt trauriger Weise nur eine Sorte Schüler hinten runter. Richtig! Die, die eben nicht den ganzen Tag das daher brabbeln, was jeder hören will oder was ihnen gerade so in den Sinn kommt, sondern stattdessen vorher überlegen. Auch das weiß Martenstein hervorragend in Worte zu fassen: „Die von unserem System diskriminierten schüchternen, zurückhaltenden oder zur Selbstdarstellung unbegabten Menschen können durchaus etwas leisten, sie sind oft recht intelligent. Sie sind nachdenklich. Bevor sie sprechen, denken sie nach, und wenn sie mit dem Denken fertig sind, ist es zu spät. Das ist ihr Problem.“

Ganz zu schweigen von der unglaublichen Willkür, mit der manche Lehrer ihre Notenwahl zu treffen scheinen. Mir ist es tatsächlich bis heute ein Rätsel, wie es einem einzigen Lehrer gelingt, 27 Schüler im Raum nach 45 Minuten Unterrichtszeit gleichzeitig im Blick zu haben und dann mit einer Punkteskala von null bis 15 zu bewerten. Wenn ihr jetzt meint, so gehe doch kein Lehrer vor, muss ich euch  enttäuschen. Wie oft habe ich mich im Nachhinein nach dem Zustandekommen meiner Note erkundigt um dann zu hören: „Na Anna, am 28.11. habe ich hier aber nur 8 Punkte stehen“ – und wie soll ich das nachvollziehen können, zwei Monate später? Von wegen, pädagogische Noten!

Den Glauben an mündliche Noten habe ich nach 13 Jahren Schulzeit verloren. Viel zu oft habe ich erlebt, wie Schüler – ich nicht immer ausgenommen – unangemessene Noten bekamen, weil psychologische Tricks und Sympathie schwerer wogen, als Leistungen auf dem Papier – da herrschte nämlich ganz im Gegensatz gähnende Leere. Und so sind mündliche Noten in meinen und vielen anderen Augen vor allem eines: ein völlig unfaires und ungenaues Instrument, das vielen klugen, durchdachten und zurückhaltenden Schülern zum verheerenden Nachteil wird wenn es um eine gerechte Notenfindung geht.

Wenn es uns endlich gelänge, mündliche Noten weniger stark zu gewichten, stärker durch Präsentationen oder Hausarbeiten zu ergänzen oder vielleicht ganz abzuschaffen, dann würde unser Schulsystem zumindest ein kleines Stückchen besser. Für mich ist es zu spät, aber für viele Millionen andere Schüler nicht und für diese bleibt zu hoffen, dass sich endlich etwas tut in unserem Schulsystem.

Diskussionen

7 Gedanken zu “Zu still! Warum mündliche Noten abgeschafft gehören

  1. Ich verstehe beide Seiten. Manche verbessern sich durch mündliche Noten, andere verschlechtern sich dadurch massiv. Ich bin eine der Stillen in der Schule. Nie habe ich viel gesagt und war schriftlich trotzdem sehr gut und immer bekam ich durch die mündliche Leistung eine schlechtere Note. Das enttäuscht und kann Ausmaße annehmen, an die niemand glaubt.
    Irgendwann wollte ich mündlich besser werden und beschloss zu üben. Ich habe es geschafft, mich öfter zu melden, aber glücklich war ich damit noch nie. Als stille, nachdenkende Person ging es mir in der Schule besser. Dazu kam aber, dass diese mündliche Verbesserung den Lehrern nicht ausreichte. Sie wollten immer mehr. Ich dachte sehr viel nach. Will ich so sein, nur weil andere mich so haben wollen? Bin ich nur gut genug für diese Schule, wenn ich viel spreche? usw. Meine Antwort lautete: nein. Man kann auch ein super Schüler sein, wenn man still ist. Ich ertappte mich auch oft dabei, nachzudenken, ob ich so überhaupt noch zur Schule gehen will. Liebes Schulsystem, willst du, dass immer mehr Schüler wegen diesem Druck die Schule verlassen?
    Ich weiß, dass sich das ziemlich krank anhört, aber es ist die Wahrheit und ich weiß, dass ich kein Einzelfall bin.
    Klar kenne ich auch viele Leute, die sich durch ihre mündliche Leistung verbessern. Das finde ich okay, aber dass mündliche Noten die Zensuren verschlechtern, finde ich nicht gut. Meiner Meinung nach, sollte man mündliche Noten nur verwenden, um Leistungen zu verbessern.
    Auch jetzt, wo meine Noten nicht mehr viel schlechter durch die mündliche Leistung werden, fand ich es als stille Person in der Schule schöner. Es war einfach angenehmer für mich, ich musste mich nicht unter Druck setzen, was ich jetzt jede Stunde muss, damit ich mich melde.

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    Verfasst von Lola | 16. September 2015, 16:43
  2. Ich stimme deiner Kritik zu, aber nicht ganz den Schlüssen, die du ziehst. Auf jeden Fall ist die Vergabe mündlicher Noten nach hauptsächlich quantitativen Aspekten der komplett falsche Weg. Da denke ich auch jedes Mal: Es kann euch doch nicht lieber sein, die ganze Zeit irgendeinen Scheiß zu hören, hauptsache irgendetwas, als mal auf qualifizierte Beiträge etwas warten zu müssen.
    ABER ein Abschaffen der mündlichen Noten führt meiner Meinung nach zu einer zu starken Gewichtung (100% ;)) der schriftlichen Noten, das ändert nichts am Leistungsdruck, macht ihn vielleicht noch schlimmer, und macht vorallem die entgültige Note auch nicht „gerechtfertigter“, denn wie oft kannst du in einer Klausur nicht richtig zeigen, was du eigentlich kanst?
    Also wenn abschaffen, dann alle Noten, was du ja auch schon vorgeschlagen hast. Andererseits denke ich doch, dass dann bei vielen die Motvation fehlen würde, überhaupt etwas zu sagen. Und mal ganz ehrlich: Komplett falsch ist der Ansatz „Hauptsache du sagst im Unterricht mal was, traust dich mal, es ist auch nicht schlimm, wenn es falsch ist“ auch nicht.
    Ich finde eine Bewertung der mündlichen Leistung prinzipiell garnicht schlecht, weil es für viele auch mit Erfolserlebnissen zu tun haben kann, aber an der Vergabe haperts eben oft. Lehrer müssten einfach viel mehr darauf trainiert werden, Qualität und Quantität stärker zu trennen, sich auch mal zu trauen, zu sagen „Gut, dass du so viel sagst, aber durchdenke die Hälfte davon lieber vorher noch einmal“. Das führt uns auch schon zu einem meiner persönlichen Lieblingsprobleme, nämlich das man im Lehramtstudium viel zu viel Stoff und viel zu wenig Didaktik und Pädagogik lernt. Aber das ist wieder eine andere Baustelle.

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    Verfasst von Ole | 13. Mai 2013, 18:31
    • Direkt zum letzten Punkt: Eine „Überpädagogisierung“ bei Lehrern ist dann allerdings auch wieder kontraproduktiv (wie man bei uns an der MTS zuletzt bei Herrn. Dr. Werner beobachten konnte) – sprich, wenn der Lehrer versucht, die Schüler alles selbst erarbeiten zu lassen, läuft das oft komplett aus dem Ruder. Deshalb rate ich da zur Vorsicht. (Wobei jenes Beispiel eher eines für falsche Pädagogik ist als eines für zu viel.)
      Soviel zu deinem „Lieblingsproblem“ – zurück zum Thema.
      Es ist natürlich problematisch, Anna, diese Maßnahme (mündliche Noten abschaffen) abgekoppelt von deinem Gesamtmodell von einem neuen Schulsystem, das du ja zu haben scheinst, zu betrachten. Wie Ole schon sagte, würde das allein vermutlich nicht zu einer insgesamt faireren Bewertung führen.
      Aber auch bei der Qualität/Quantität-Problematik sehe ich die Dinge aktuell nicht ganz so pessimistisch wie du (und Ole): bei mir selbst haben im Laufe der Jahre sehr viele verschiedene Lehrer genau diese Differenzierung gemacht: dass ich gute, aber zu seltene Beiträge brächte (was auch eindeutig meine Schwäche ist). Wie allerdings die Gewichtung dann abläuft, ist eine andere Frage, und das könnte in der Tat der springende Punkt sein. Ich würde also nicht sagen, dass Lehrer überhaupt nicht auf Qualität achten (wer könnte das auch ernsthaft behaupten wollen), aber über die Balance und Gewichtung der beiden Polare in der Bewertung kann und sollte man sich tatsächlich Gedanken machen.
      Zum Schluss: Fließtexte (wie in der ersten Klasse) könnten Schülern auch in der Oberstufe wirklich gerechter werden als bloße Noten – aber das hatte ich noch nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Vielleicht sollte ich das.

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      Verfasst von Simon Vetter | 15. Mai 2013, 19:35
  3. Ohne Mündliche Noten hätte ich mein Abi nicht bekommen.
    Ich finde es Unsinn sowas „abschaffen“ zu wollen, das hilft keinem.
    Natürlich sind sie fragwürdig, aber was machen die die einfach bessere Redner als „Schreiber“ sind?
    Die haben dann ein Problem, und auf die Aussage „den ganzen Tag das daher brabbeln was jeder hören will“ geh ich einfach mal nicht ein, denn ein guter Lehrer wertet nicht nur die Quantität.
    Vielleicht hat ich einfach nur Glück mit meiner Schule da meine Lehrer fähig waren zu unterscheiden, aber „Abschaffen“ bringt nie was.
    Was wir brauchen ist ein System das Individualität fördert, d.h. auf die Stärken und Schwächen jedes einzelnen eingeht. Das sowas quasi unmöglich ist ist mir natürlich auch klar.

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    Verfasst von Dominik Wolff | 13. Mai 2013, 11:34
    • @Dominik: Danke für deinen Kommentar. Ich finde deine Kritik berechtigt, denn natürlich ist das bloße Abschaffen von mündlichen Noten noch viel zu wenig und würde deshalb vermutlich nicht viel bringen. Der Artikel bezieht sich hauptsächlich auf die mündliche Notenvergabe, weil mir diese am ungerechtesten erscheint – anders als die auf dem Papier (obwohl gerade in Fächern wie Deutsch oder Englisch auch hier häufig nach Sympathie bewertet wird). Ich bin aber insgesamt der Meinung, dass Noten gänzlich abgeschafft gehören und beispielsweise durch schriftliche Bewertungsbögen ersetzt werden sollten – das wird in manchen Schulen, zumindest in der Mittelstufe, bereits durchgeführt und funktioniert. Solltest du dem Themenbereich “Schule” in meinem Blog weiter folgen, wirst du merken, dass ich eigentlich sogar für die absolute, restlose Abschaffung unseres Bildungssystems bin – mündliche Noten bräuchte man dann nicht mehr (:

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      Verfasst von dieweltannalysieren | 13. Mai 2013, 16:20
  4. Generell ist die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler entscheidend, man schaue sich dazu mal die Benotung von Aufsätzen, Interpretationen, usw. an. Abschaffen sollte man das Benoten, wenn schon insgesamt. Gibt genug Alternativen.

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    Verfasst von Steffen | 13. Mai 2013, 11:06

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