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Schulermittler, Verdachtsfälle & Co. – Wie kaputt ist Deutschland wirklich?

Drogen, Gewalt und Brüllerei im Minutentakt – Der explosionsartige Erfolg des „Scripted Reality“ ist das derzeit wohl verwunderlichste Phänomen im deutschen Fernsehen. Was macht dieses Format so interessant und welche Folgen hat es für uns und die Gesellschaft? Eine Bilanz. 

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Wie jeden Tag kommt er aus der Schule nach Hause, wirft erschöpft die Schultasche in die Ecke und sich selbst auf die Couch vor den Fernseher. Die ersten Kanäle, mit den öffentlichen Sendern überspringt er getrost, er weiß was er sehen will. „Familien im Brennpunkt“, „Verdachtsfälle“, „Schulermittler“, „Mitten im Leben“, „X-Diaries“ – die Auswahl ist groß. Nach den anstrengenden Stunden in der Schule braucht er leichte Kost, irgendetwas, das ihm hilft abzuschalten. Ohne Nachdenken. Berieseln lassen.

Also folgt er der Erzählerstimme nach Köln, Stadtteil Mühlheim, wo sich die zweifache Mutter Petra Bauer um ihre Tochter Nadine sorgt. Die ist seit zwei Jahren ausgezogen, hat zusammen mit dem arbeitslosen Türsteher, der arabischer Abstammung ist, ihre eigene Familie gegründet. Problem: Akin ist ein Macho, cholerisch, aggressiv und schickt seine Freundin noch dazu auf den Strich. Schon bei Minute 02:27 eskaliert die Situation. Nadine kreischt Petra an, Petra kreischt Nadine an, Tränen fließen in Strömen und Akin, gewohnt ungebremst, presst seine übergewichtige Schwiegermutter brutal gegen die Wand. Die Kamera wackelt, Akin brüllt: „Halt die Fresse, sonst …“ … poliere ich sie dir, ergänzen die Zuschauer im Kopf.

Ein typischer Fernsehnachmittag im Alltag vieler Kinder, Jugendlicher und Erwachsener. Die Quoten für Sendungen dieser Art liegen an einem normalen Montagnachmittag bei 1,89 Millionen Zuschauern, zuzüglich der 14.502 Internetaufrufe schon am Tag danach.

Pseudo-Doku statt Realität

„Scripted Reality“ – geschriebene Realität – nennt sich das erfolgreich gewordene Genre. Sendungen wie „Richterin Barbara Salesch“ oder „Lenßen&Partner“ schrieben Erfolgsgeschichte und zogen eine ganze Kaskade neuer Sendungen nach sich. Charakteristisch ist vor allem der Anschein von Realität, den all diese Formate wecken wollen. Sie suggerieren reale Begebenheiten, Geschichten aus dem alltäglichen Leben, die es so gar nicht gibt – in Wahrheit ist alles „gescribted“, in einem Drehbuch vorgeschrieben. Trotzdem wirkt es wie eine Dokumentation: eine stets kommentierende Erzählerstimme, wackelnde Kameras in Streitsituationen, in letzter Sekunde anrennende Kamerateams, die aus dem Fenster filmen, Interviews mit den Darstellern, ungeschönte Fäkalsprache. Alles wirkt wie im „wahren Leben“ inklusive der „Schauspieler“, die eigentlich keine sind, sondern lediglich gecastete Laien von der Straße. Doch die lassen, nach Meinung der Hersteller, alles „authentischer“ (nicht billig und schlecht)  wirken. „Die Zuschauer können sich wiederfinden“, erklärt Felix Wesseler von der Produktionsfirma Filmpool.

Bedauerlicherweise ist es mir bisher nicht gelungen, mich mit Akim, Nadine oder Petra zu identifizieren. Ich gehe nicht auf den Strich, habe keine Affäre mit einem 20 Jahre älteren Mann, verprügle nicht wahllos irgendwelche Leute und bin weder Nazi noch Hartz-4-Empfänger. Nach Aussage Wesselers scheinen aber zwei Millionen Menschen genau das zu sein. Nie zuvor hat eine Sendung seine Zuschauer so herabgewürdigt, ganz zu schweigen von der perfiden Rufschädigung der Darsteller. Eine Casting-Agentin erklärt, nach welchem Prinzip Rollen besetzt werden: Die Darsteller stammen zumindest in abgeschwächter Form aus der gleichen Lebenswelt, das mache sie authentisch und glaubhaft. „Schwangere und Fettleibige können wir immer gut gebrauchen“, sagt sie, genauso wie „gehirnamputierte Hartz IV-Empfänger“.

Dass nach Umfragen knapp die Hälfte der Zuschauer zwischen 6 und 18 Jahren die Fake-Dokus für real oder die Geschichten für realitätstreu nachgespielt hält, ist mit Sicherheit ein Warnschuss. Was mit Kindern passiert, die Tag täglich vor dem Fernseher mit körperlicher Gewalt, Sex, Ausrastern, Dauerlethargie und Klischees malträtiert werden, die sie für die Realität halten, mag man sich gar nicht ausmalen.

Rufschädigung und falsche Aggression 

Die Realität, die tatsächliche, sieht so aus: Während eines Besuchs im Supermarkt höre ich zwei erwachsene Damen sich über Arbeitslose unterhalten, bis schließlich die eine zur anderen meint: „Brauchst doch nachmittags nur mal RTL einzuschalten, dann weißt du wie die ticken. Faul auf der Couch liegen und die anderen arbeiten“. Mal ganz abgesehen von den bewusst eingesetzten Stereotypen, die Folge für Folge das „Kanacken-Image“ eines jeden Ausländers bewerben und so Rassismus weiter Tür und Tor öffnen. Danke RTL für die Diffamierung von Millionen rechtschaffenden Staatsbürgern. Die Gehirnwäsche wirkt.

Bleibt noch zu klären, was die Billigproduktionen mit der grottigen Schauspielleistung denn nun den Traumerfolg sichert. Die einen glauben, man kann sich mit den Menschen aus dem gleichen Milieu identifizieren und ihr Schicksal mitfühlen, die anderen sehen darin den Höhepunkt des Voyeurismus – die Freude daran, sich am Leid anderer zu ergötzen. Schwer zu sagen, welche Begründung nun die bessere in Bezug auf unsere Gesellschaft wäre. Zwei Millionen Deutsche, die der Lebenswelt von Schlägern, Prostituierten und Gewaltverbrechern entstammen oder zwei Millionen Deutsche, die Spaß am Leid und Versagen anderer haben?

Bekäme der renommierte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki den Fernsehpreis nach 2008 ein zweites Mal angeboten, er würde ihn vermutlich nicht nur nicht anfassen, sondern sofort auf dem Boden zerschmettern – in tausend kleine Scherben.

Zieht ihr euch gerne Familien im Brennpunkt, Berlin Tag & Nacht, Verdachtsfälle oder andere Pseudo-Dokus rein? Wenn ja, warum? Was macht diese Formate für euch so attraktiv, worin seht ihr die Gefahren? Postet eure Meinung zum Thema „Scripted Reality“! 

 

Diskussionen

4 Gedanken zu “Schulermittler, Verdachtsfälle & Co. – Wie kaputt ist Deutschland wirklich?

  1. Und jetzt ist auch noch Reich-Ranicki gestorben. Was soll nun noch aus dem deutschen Fernsehen werden? Ein Jammertal.

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    Verfasst von dieweltannalysieren | 16. Oktober 2013, 13:09
  2. Ich weiß schon, weshalb ich nie fernsehe… und gerade Sendungen dieses Formats waren mir immer schon zutiefst zuwider.
    Aber war denn „gehirnamputierte Hartz IV-Empfänger“ wirklich ein Zitat von dieser Casting-Agentin? Das wäre ja der absolute Gipfel.

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    Verfasst von Simon Vetter | 15. Mai 2013, 18:30
  3. >>„Schwangere und Fettleibige können wir immer gut gebrauchen“, sagt sie, genauso wie „gehirnamputierte Hartz IV-Empfänger“.<<
    Wenn ich das schon lese wird mir schlecht. Wie niveaulos ist das denn bitte? Ich verabscheue diese Sendungen generell, auch wenn ich zugebe, dass ich mir einige von ihnen zu Anfang auch angeschaut habe. Bis ich dann dahinter kam, dass das alles so unrealistisch und einfach nur daneben ist.
    Aber es stimmt schon was der Artikel am Anfang sagt: Man kommt nach Hause, hat vielleicht eigene Probleme, und setzt sich dann mit der Absicht vor den Fernseher, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen und bloß nicht an die eigenen Probleme zu denken. Viele Jugendliche versuchen dadurch zu verdrängen, und oftmals ist auch niemand da, mit dem sie reden können oder wollen.
    Dass Sender wie RTL/ RTL II das dann noch so schamlos ausnutzen…da kann man nur noch den Kopf schütteln.
    Und zu den Frauen im Supermarkt: schaut euch mal RTL II News an, und vergleicht die mit ARD News. WELTEN liegen dazwischen. Und wenn jemand im Unterricht nach den neusten Entwicklungen fragt und der Lehrer sich nach der Quelle erkundigt: "na ja, war halt auf RTL II in den News". Super seriöse Quelle.
    Dieser Artikel ist super! Danke fürs Schreiben 😉

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    Verfasst von Natalie B. | 14. Mai 2013, 12:05

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