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Schule

„Schule im Aufbruch“ So geht Schule!

Fortsetzung zu „Aussortiert – Warum das Bildungssystem abgeschafft gehört“

In meinem letzten Beitrag „Aussortiert! – Warum das Bildungssystem abgeschafft gehört“ habe ich den Zustand deutscher Schulen in seinem traurigen Ausmaß weitgehend beschrieben. Vielen ist bereits klar, dass es einer Änderung in unseren Schulen bedarf und dass Schule endlich anders werden muss. Nun komme ich zu den spannende Frage: WIE?
Wie ist das System noch zu retten? Wie könnte ein neues System aussehen? Und wie kommt das System tatsächlich in unsere Schulen?

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Wie ist das System noch zu retten?

Gleich zu Beginn eine wichtige Frage, die zunächst geklärt werden muss, bevor wir uns der bahnbrechenden Erkenntnis nähern. Denn in dieser Frage steckt das eigentliche Problem, von dem ich glaube, dass es der Hauptgrund ist, warum sich viele Leute von den intelligenten Ideen eines Richard David Prechts oder Gerald Hüthers nicht mitreissen lassen. Das Problem, das in dieser Frage steckt ist, dass viele glauben, das Bildungssystem sei doch noch zu retten, die Schwächen gar nicht so gravierend. Das Problem ist, dass die Mehrheit der Bürger und Politiker nach wie vor zu denken scheint, es wäre mit ein paar verstellten Schrauben, einem neuen Anstrich und einer eingerissenen Wand getan. „Herrgott, so morsch kann das ganze Ding doch gar nicht sein, wenn es nach mehr als 200 Jahren noch steht. Und außerdem: Häuser unter Denkmalschutz reißt man schließlich auch nicht ab, sondern man renoviert sie“, so stelle ich mir den Tenor in manchen Politiker- und Elternköpfen vor.

Die Quittung für diese Bastelei halten wir aber jetzt schon in der Hand: G8, eine riesen Abneigung für Gruppenarbeiten und Referate auf Schülerseite, Stellenabbau bei Lehrern, pseudo-pädagogische Lernkonzepte, die mit Kindern, die Frontalunterricht und Päckchenlernen gewohnt sind, schlicht nicht funktionieren. Es sind die richtigen Schrauben, für die falschen Muttern und das richtige Material für das falsche Gebäude. Also, die für viele niederschmetternde Diagnose lautet: Das System ist nicht zu retten. Schluss mit den lebenserhaltenden Maßnahmen! Die Erfahrung aus den letzten Jahren hat uns unmissverständlich gezeigt, dass faires, effektives und interessantes Lernen in diesem System heute nicht mehr möglich ist. Punkt. Einem Elefanten kann man schließlich auch nicht das Fliegen beibringen, ganz egal wie lange man es versucht und ganz egal wie viele Vogelfedern man ihm noch aufkleben mag (Sollte jemand andere Erfahrungen gemacht haben, bitte eine Mail an mich – das wäre einen Beitrag mit Foto wert!).

Wir sollten uns das nicht länger schönreden und die Augen davor verschließen, sondern uns endlich für etwas öffnen, das manchen vielleicht radikal und neu vorkommen mag, das deswegen aber noch lange nicht schlecht, naiv oder nicht umsetzbar ist. Warum nicht weg vom 19. Jahrhundert hin zu einer modernen Schule – für ein Lernen im Hier und Jetzt? Zugegeben, es ist eine Umwälzung und ja, es ist nicht flächendeckend erprobt, aber doch im Kleinen und dort mit großem Erfolg. Wo und wie, das verrät der nächste Abschnitt.

Wie könnte ein neues System aussehen?

Jaja, wir kennen sie alle: Waldorf-, Montessori- oder Rütli-Schule. Hand auf’s Herz, wem läuft es beim Lesen der Namen nicht schon kalt den Rücken runter? Wessen Lachmuskeln fangen da nicht zu zucken an, wenn er an die „zurückgebliebenen Kinder“ denkt, die an der Waldorfschule jeden Morgen ihren Namen tanzen? Soviel zu den Vorurteilen, von denen sich wohl niemand gänzlich freisprechen kann. Reformschulen sind bei „uns“ vollkommen verschrien und auch mancher Lehrer reißt nicht selten mal einen Witz über „die anderen“. „Die anderen“ das sind die Schüler von Schulen, deren Lernkonzept man gemeinhin unter dem Begriff „Reformpädagogik“ zusammenfasst. Es entsteht dadurch der Eindruck, als gäbe es demnach nur zwei Gruppen: „uns“, die Normalen und „die anderen“ – und die Kluft, die zwischen den beiden konkurrierenden Systemen existiert. Quasi wie in einem Wettkampf stehen sich die konservative und „die“ reformierte Schule gegenüber (in Wahrheit sind es natürlich mehrere Reformschulen mit unterschiedlichen Konzepten). Spannend ist, dass immer mehr Studien belegen, dass Reformschulen Regelschulen in vielen Bereichen den Rang ablaufen (gleich lernt ihr so eine Schule konkret kennen). So fand beispielsweise eine US-Forscherin 2006 in ihrer Studie mit Vorschulkindern und Grundschülern heraus, dass Montessori-Schüler Schülern traditioneller Schulen in kognitiven und sozialen Fähigkeiten weit überlegen sind. Ist diese Hetze von Seiten der Regelschulen also nur eine berechtigte Schutzreaktion, aus Angst den Vergleich zu verlieren? Oder einfach nur Neid?

Die Evangelische Schule Berlin Zentrum

Wer meinen Text „Lernlust statt Schulfrust“ gelesen hat, dem sollte die ESBZ bereits bekannt sein. Ich wurde auf sie aufmerksam, als ich im Januar eine Veranstaltung in Frankfurt besuchte, die sich genau mit dem jetzigen Thema auseinandersetzte: „Wie kann Schule anders gehen und zwar so, dass sie auch Spaß macht?“
Margret Rasfeld, Schulleiterin der ESBZ, hat eine Möglichkeit gefunden, das haben jedenfalls die Schülerinnen und Schüler bewiesen, die auf der Veranstaltung von ihrer Schule regelrecht geschwärmt haben. Bei der ESBZ handelt es sich um eine Gemeinschaftsschule, was bedeutet, Haupt- und Realschule, sowie das Gymnasium existieren in dieser Form nicht mehr – womit ein deutlicher Schritt in Richtung Chancengleichheit geschafft ist. Dass darunter das Niveau leide, sei laut Rasfeld widerlegt. Ganz im Gegenteil, die Schüler würden im Bereich der Lesekompetenz und in naturwissenschaftlichen Fächern überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen. Was die Unterteilung in Jahrgangstufen anbetrifft, so hat sich die ESBZ auch hier für eine Lockerung entschieden. Unterrichtet wird nicht mehr im Klassenverband, sondern in Kleingruppen und Sitzenbleiben gibt es nur nach Absprache und freiwillig. 32 Schüler begnügen sich so nicht mehr mit einem Lehrer, sondern werden in kleinen Gruppen von einem „Lehrer-Team“ unterrichtet (Lehrer sind an dieser Schule übrigens keine Beamten und hochmotiviert). Einmal in der Woche führt der Tutor ein persönliches, einstündiges Gespräch mit jedem Schüler, in dem Probleme, privater oder schulischer Natur, freundschaftlich gelöst werden – „jedes Kind ist einzigartig, jedes Kind zählt“, so lautet das Motto. Um Frontalunterricht braucht man sich als Schüler der ESBZ auch keine Gedanken mehr zu machen, denn dieser ist so gut wie abgeschafft. Die Kinder lernen entweder in Gruppen gemeinsam, wobei der Lehrer nur unterstützend wirkt, oder alleine mit ihrem „Logbuch“ und dem „Lernbüro“. Im Lernbüro holen sie sich morgens die Arbeitsaufträge ab, die sie bearbeiten möchten – in ihrem Tempo und nach ihrem Interesse, und im Logbuch tragen sie die Ergebnisse des Tages ein, um den Überblick zu behalten. Noten und übermäßigen Leistungsdruck bleiben den Schülern erspart, denn Leistungskontrolle erfolgt entweder freiwillig durch Tests (den Termin nennen die Schüler!) oder Hausarbeiten. Mit diesem Konzept lernt jeder Schüler nach seinem Tempo, verliert den Anschluss nicht und lernt im Schnitt mehr, weil es ihm Spaß macht. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Projektarbeiten und „lebensnahem Lernen“, wie die beiden extra Fächer „Verantwortung“ und „Herausforderung“ zeigen. Mit diesen Fächern lernen Kinder eben nicht nur stur auswendig, sondern das, was wirklich zählt: Sozialverhalten, Eigenverantwortung, Durchhaltevermögen und einiges mehr. Ausgestattet mit Geld und einem „Aufpasser“ machen sie sich auf den Weg um ihr eigene „Herausforderung“ umzusetzen. Eine Paddeltour auf der Lahn, eine Wanderung durch Frankreich oder ein kleines Bauprojekt – nichts ist für 9. Klässler unmöglich, jedenfalls für die der ESBZ. Bemerkenswert ist auch das Projekt „Schüler schulen Lehrer“ (zu dem sich übrigens Lehrer aus ganz Deutschland anmelden können – EMPFEHLENSWERT).

In seinem Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“, das von mir ja bereits häufiger angesprochen wurde, führt Richard David Precht einige weitere Ideen aus, um die Schule, wie wir sie kennen, zu revolutionieren. Auch er plädiert für jahrgangsübergreifenden Unterricht, eigenverantwortliches Lernen am Computer (mit Lernprogrammen von Nobelpreisträgern), in Gruppen und in Projektarbeit (mit Leuten vom Fach, also Ingenieuren, Ärzten, Schriftstellern – dazu schlägt er ein Seniorenprogramm vor). Fächer will Precht ebenso abschaffen und stattdessen zusammenhängend, also in Themenkomplexen lernen lassen (quasi fächerübergreifend, wie wir es in unseren Schulen heute in Ansätzen kennen, jedoch sehr schlecht umgesetzt).

Und wie kommt das System tatsächlich in unsere Schulen?

Die wahrscheinlich wichtigste Frage überhaupt und gleichzeitig am häufigsten diskutierte – seit Jahren. Wie viele Reformatoren haben sich für diesen Traum schon ein Bein in der Politik ausgerissen? Gerald Hüther, Hirnforscher und Autor, zum Beispiel war als Experte bereits in zahlreichen Ausschüssen auf hoher Ebene unterwegs, getan hat sich nie etwas. Stattdessen zementieren die Kultusminister unseres Landes weiterhin den Bildungsförderalismus, der für eine einheitliche Umgestaltung zwingend abgeschafft gehört. Nach wie vor fliest viel zu wenig Geld in Bildung, weniger als in allen anderen OECD Staaten. Deutsche Politik hat kein Interesse an einer guten Schule, offenbar kein Interesse an Bildung, kein Interesse an mündigen Staatsbürgern und kein Interesse an guten Lehrern (die nach wie vor Beamte sind – eindeutig der falsche Anreiz zum Lehrerwerden).

Kurz und knapp: Von Seiten der Politik ist keine „Revolution“, wie Precht sie fordert, zu erwarten. Keine Revolution von oben also, dann bleibt nur die Revolution von unten – und diese ist bereits in Gang gekommen. „Schule im Aufbruch“ nennt sich die Bewegung, die schon jetzt einige Schulen transformiert hat. Tag um Tag wachsen die Mitgliederzahlen, immer wieder berichten Leute in Facebook von neuen Errungenschaften. Schulleiter und Lehrer, Schüler und Eltern sind dazu aufgerufen ihre Schulen selbst umzugestalten – was einfacher zu sein scheint, als mancher glaubt. Grundvoraussetzungen sind jedoch: Mut, Entschlossenheit, Tatendrang und der Glaube, etwas bewirken zu können. Desinteresse dürfen wir uns nicht mehr erlauben. Es ist Zeit Leute aufmerksam zu machen, sie zu motivieren und die Transformation voranzutreiben. Es ist bitter nötig und es geht – ich hoffe, dass dieser Beitrag das zeigen konnte.

Diskussionen

3 Gedanken zu “„Schule im Aufbruch“ So geht Schule!

  1. Okay, das hatte ich in meiner Überlegung natürlich etwas außer Acht gelassen. Solange die Lehrer immer noch eine führende Stellung inne haben und darauf achten, dass jeder Schüler tatsächlich arbeitet, hat das neue System natürlich ganz deutlich den Vorteil.
    Grade heute habe ich mit jemandem gesprochen der sich negativ über die Montessori-Schule ausgelassen hat. Anlass war ein Junge (vielleicht 10 Jahre alt) der sich immer daneben benehmen würde, immer die anderen wegdrängt beim Schwimmen und generell immer eine Extrawurst wollen würde. Als Grund für dieses Verhalten sah die Person die Montessori-Schule, welche das Kind besucht.
    Für mich ist das eine absolute Vorurteilssituation: In den Köpfen der Leuten ist das ganze so negativ eingebaut, dass man an unserem jetzigen Schulsystem doch immer noch irgendwo ein gutes Haar findet.
    Was ich vielleicht noch persönlich interessant fände, wäre die Entscheidung den Kindern zu überlassen. Es gibt Kinder, die schon früh wissen was sie wollen und mit diesem „konservativen“ System gut zurechtkommen.
    Man muss ja nicht unbedingt eines der beiden Systeme verdammen, sondern sie nebeneinander anbieten, (mit dem Unterschied zu der jetzigen Situation), dass die „reformierte“ Schule mehr gefördert/ angeboten wird.

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    Verfasst von Natalie B. | 15. Juni 2013, 09:52
  2. Mal wieder ein fantastischer Artikel, alleine die Art, wie du das ganze beschrieben hast (die Metaphern und Bilder) sind genial und machen den Artikel besonders lesenswert.
    Schulreform ist ein ewiges Thema, vor allem für die, die selbst durch dieses System durchgehen mussten. Auch ich würde mir wünschen, dass sich endlich etwas ändert. Dieser Leistungsdruck, unter dem die Kleinen aus der fünften Klasse arbeiten müssen, ist ja nicht mehr mitanzusehen. Die haben teilweise so viele Stunden wie die Abiturienten und wofür? Zusammenbrüche, Depressionen, psychische Störungen….die Liste ist lang.
    Eine Schule, in der ein Kind individuell gefördert wird und selbst die Geschwindigkeit des Lernens bestimmen kann, ist also gar nicht so verkehrt, aber ein Problem sehe ich doch: würden dann nicht einige gar nicht mehr vorankommen wollen? Die Generationen von heute sind besonders dickköpfig und eigensinnig, und bestimmt auch nicht viel mehr an Schule und Lernen interessiert als wir damals. Ich persönlich sehe die Gefahr, dass einige das Lernen schweifen lassen würden (auch wenn es in dieser gelockerten Form eigentlich schon Spaß machen sollte) einfach weil sie besseres zu tun haben (oder das denken. Nicht alle Eltern sind in der Lage ihrem Kind Spaß an Bildung zu vermitteln.).
    Ich weiß selbst nicht, wie man das Problem lösen sollte, aber man darf auf keinen Fall aus den Augen verlieren, dass dieses Schulsystem auch Probleme mit sich bringen würde (natürlich weniger als im Vergleich zum jetzigen).

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    Verfasst von Natalie B. | 12. Juni 2013, 07:38
    • Liebe Natalie,
      danke für dein nettes Feedback 🙂 Ich kann deine Bedenken in diesem Punkt nachvollziehen. Natürlich wird es immer auch Kinder oder Jugendliche geben, die mal keinen Bock auf Lernen haben (gerade in der Pubertät). Allerdings kann man in „dem neuen“ System sogar viel besser damit umgehen. Anhand des Logbuchs sehen die Lehrer (die es ja nach wie vor noch gibt) sofort, wenn ein Schüler durchhängt oder plötzlich nichts mehr macht. Das kommt sicher auch in den wöchentlichen Beratungsstunden raus. Dann besteht die Möglichkeit etwas daran zu ändern, sei es durch Motivation oder dann eben doch mit dem guten alten Tritt in den Hintern 🙂 Aber wer lernt denn mehr? Der Schüler in unserem System, der keinen Bock hat, auf Durchzug stellt und sich vom Gelaber der Lehrer berieseln lässt, oder der Schüler, der sich seinen Stoff selbst zusammensucht, nach seinem Tempo lernt und durch Klassenkameraden in Projekten motiviert wird? 😉

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      Verfasst von dieweltannalysieren | 12. Juni 2013, 11:05

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