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Schule

Liebe Schulzeit, …

Dreizehn Jahre Schule gehen zu Ende – Zeit Bilanz zu ziehen. Zeit mit nüchternem Blick auf eine Lebenspanne zu blicken, die in zehn Jahren romantisiert und um ihre negativen Seiten beraubt sein wird, weil im Nachhinein – so kennt man es von Liebesbeziehungen – alles doch viel schöner erscheint, irgendwie makellos perfekt. Ein persönlicher, offener Brief an meine Schulzeit – ungeschönt und echt. Vielleicht erkennt ihr euch wieder. 

LiebeSchulzeit

Liebe Schulzeit, …

ich weiß noch wie wir uns kennenlernten. Es war der Sommer im Jahr 2000. Die Sonne schien und draußen wehte ein leichter Wind. An diesem Morgen schlug ich die Augen auf und wusste, dass heute etwas ganz Neues beginnt – etwas, auf das ich schon seit dem letzten Jahr im Kindergarten sehnsüchtig gewartet hatte.

Tausend verrückte Gedanken im Kopf hüpfte ich wie ein Flummi vor meinen Eltern herum, freudestrahlend und bereit für die großen Abenteuer, die ich mit dir erleben wollte. Von diesem Tag an gehörtest du plötzlich zu mir, so wie Jim Knopf zu Lukas und Piggeldy zu Frederick.

Gemeinsam mit den anderen Kindern verbrachten wir jeden Tag viele Stunden in dem großen Haus, von dem ich bald lernte, dass es „Schule“ hieß. Wir bastelten, malten, lasen, schrieben, sangen und hatten eine Menge Spaß. Ich weiß noch, dass ich nie so richtig stillsitzen konnte, ständig etwas neues entdeckte und meinen Sitznachbar mit revolutionären Ideen traktierte. Manchmal wurdest du dann wütend, liebe Schulzeit, weil es dir nicht gefiel, wenn ich in den Rechenstunden lieber Bücher las oder ständig in die „Freizeitecke“ schielte, wo die Themenordner  mit den wirklich interessanten Dingen standen. Auch das Sitzen war mir unheimlich, irgendwie unangenehm und so ging dir mein Bewegungsdrang oft ziemlich auf die Nerven. Trotz alledem hielt unsere Freundschaft den kleinen Meinungsverschiedenheiten stand, obwohl dir gerade gegen Ende der dritten Klasse viele meiner Kameraden klammheimlich die Freundschaft kündigten. Du warst ihnen eben einfach suspekt geworden. Schade, dass du viele von ihnen später so im Stich gelassen hast.

Gerade die ersten Jahre mit dir haben mir eine Menge für mein Leben mitgegeben. Nicht nur was Lesen, Schreiben, Rechnen anbelangt, sondern auch die riesige Portion Selbstbewusstsein, Kreativität, Diskussionsfreude und Durchhaltekraft verdanke ich diesem Abschnitt unserer gemeinsamen Zeit. Es war die Zeit der Entdeckerfreude, der Diddl-Blätter, der Prügeleien mit den Jungs auf dem Schulhof, dem Naschversteck unter der Schulbank. In dieser Zeit schrieb ich meine ersten eigenen „Bücher“ auf dem alten Windows 95, von denen ich glaubte, sie würden mal Bestseller – nie machten mich drei Seiten je wieder so stolz. Du warst eher skeptisch, denn Bücher schrieb man in der Schule eben einfach nicht. Nur dass ich vermutlich doch keine „Staatsanwältin“ werde, wie von meinem Grundschullehrer prophezeit, dafür gebe ich dir nicht die Schuld …

In der vierten Klasse stand dann eine Entscheidung an, die unsere weitere Beziehung für die Zukunft prägen sollte. Auf welche Schule durfte ich denn nun weiter gehen? Ich wäre am liebsten geblieben, doch das ging nicht. Mein Lehrer wollte mich an das Gymnasium schicken, Mama und Papa auf die angesehene Privatschule mit Realschulzweig. Was ich wollte, war einfach nicht von meiner besten Freundin getrennt zu werden, also gab ich mir alle Mühe, die Wünsche meiner Eltern zu erfüllen. Meine Noten waren sehr gut, nur die Drei in Mathe war ständig Grund zur Sorge. Die Angst, deinen und meinen Ansprüchen nicht zu genügen, war von da an ein unliebsamer Begleiter, der sich immer wieder zwischen uns drängte.

Trotz der Drei durfte ich schließlich auf die Elisabethenschule gehen, ein Ort voller Wärme und Geborgenheit gepaart mit hohen Ansprüchen. Die Noten wurden mir immer wichtiger und nahmen immer mehr Platz in meinem Schulalltag ein. Eine Drei war Grund für viele Tränen, eine Vier bereits der Weltuntergang. Die eine Sechs, die ich mal in Mathematik bekam, sorgte auch Zuhause für eine Menge Wut und Ärger. So langsam fing ich an, daran zu zweifeln, ob du denn wirklich noch mein Freund sein wolltest oder dich nicht schon längst von mir entfernt hattest. Wir hatten plötzlich nicht mehr die gleichen Interessen, waren immer öfter anderer Meinung, wenn es um Leistung und Nutzen ging und verloren uns immer mehr aus den Augen. Ich bemühte mich trotzdem, mit dir Schritt zu halten, aber ich glaube schon damals tat ich es nicht mehr unserer Freundschaft wegen, sondern weil man es von mir erwartete und weil es eben nicht anders ging. Dich aufzugeben hieße dorthin zu gehen, wo viele Grundschulfreunde aus der dritten Klasse auf mich warten würden – an den Rand der Gesellschaft. Ich fasste also den Entschluss „zweigleisig zu fahren“: Du zu meiner Linken und die Bücher zu meiner Rechten. Sie öffneten mir eine Welt zu Themen, die mich brennend interessierten, mich fesselten ohne mich zu bewerten und ohne Leistungsdruck. Ich lernte meinen Wissensdurst auf anderem Wege zu stillen, so, dass ich zu jeder Zeit das lernen konnte, was mir Spaß machte. Philosophie und Psychologie wurden in der 10. Klasse die Themen, mit denen zu beschäftigen mich keiner zwingen musste. Lernen ging wie von selbst, machte Spaß und motivierte mich zu größeren Dingen.

Nach den Abschlussprüfungen stand die zweite wichtige Entscheidung an, die ich aber im Nu fällen konnte. Ich wählte die M-T-Schule zur dritten Institution, die ich, zehn Jahre nach unserem Kennenlernen, mit dir gemeinsam besuchen wollte. Sie sollte später zur Guillotine unserer Freundschaft werden, aber das wusste ich damals nicht – vielleicht wäre sonst vieles anders gelaufen. Mit großen Erwartungen, nach wie vor ungestilltem Wissensdurst und dem Wunsch, endlich etwas für mein Leben zu lernen, setzte ich mich am ersten Tag in die Aula der Schule. Doch es sollte, wie die Jahre zuvor, anders kommen – schlimmer.

Hatte man an der überschaubaren „Eli“ noch jeden beim Namen gekannt, Wert auf einen menschlichen Umgang und eine gesunde Lehrer-Schüler-Beziehung gelegt, so folgte man in diesem beinahe riesigen Schulgerüst einem Konzeptgemisch von Anonymität und elitärer Gleichgültigkeit. Irgendwo in dem Gewusel habe ich dich im letzten Jahr dann wohl verloren. Ich weiß noch, dass du zu mir sagtest, ich müsse durchhalten, mitschwimmen und den Mund halten. Ich wollte meinen Mund nicht halten, ich hatte die Schnauze gestrichen voll. Ja, voll, voll, voll. Willst du wissen, was ich von dir gelernt habe? Ich habe gelernt, wie ich die Aufmerksamkeit auf mich ziehe, um herauszustechen – notgedrungen, um schulisch zu überleben. Ich habe gelernt, die Antworten zu geben, die man von mir fordert. Ich habe gelernt, das wiederzugeben, was vor mir schon Millionen Menschen gedacht haben, aber nie bin ich dabei neue Wege gegangen. Ich habe gelernt, dass Ehrgeiz, Einzelkämpfertum und Erfolg nicht nur den selben Anfangsbuchstaben haben, sondern dass sie auch niemals separat vorkommen. Und ich habe gelernt, dass mit dir dutzende Schüler auf der Strecke blieben – von damals, im Sommer 2000, bis heute.
Liebe Schulzeit, du warst nie mein Freund. Es ist gut, dass sich unsere Wege trennen, auch wenn ich wünschte, wir hätten manches anders gemacht. Vielleicht waren wir einfach nur viel zu verschieden, vielleicht ist deine Zeit aber auch einfach nur um: aus Schulzeit wird Schulreform. Wenn du das schaffst, bin ich bereit, dir die Hand zu reichen.

Deine Anna

Diskussionen

2 Gedanken zu “Liebe Schulzeit, …

  1. Jetzt habe ich eine grobe Vorstellung, was dich zu deiner einzigartig negativen Einstellung bezüglich der Schule im Allgemeinen und Speziellen (also MTS) geführt hat 😀
    Schön geschrieben!

    Like

    Verfasst von simonvetter | 22. Juli 2013, 12:37
  2. …..liest sich sehr gut und bleibt bis zum Schluß interessant.Ich bin stolz auf Dich

    Papa

    Like

    Verfasst von Papa | 30. Juni 2013, 19:57

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